In der Zeit zwischen Dezember 1938 und Mai 1940 konnten ca. 10.000 vor allem jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei nach Großbritannien gerettet werden. Die von der britischen Regierung initiierte Rettungsaktion ist unter dem Namen „Kindertransport“ in die Geschichte eingegangen. Nach dem ersten Treffen der geretteten Kinder 1989 setzte eine vieldimensionale Auseinandersetzung mit den Kindertransporten ein, die bis heute in autobiografischen und literarischen Texten, in Filmen und wissenschaftlichen Abhandlungen fortgeführt wird.
Eva-Maria Thüne hat 36 von den geretteten ‚Kindern‘ aufgesucht und 2017-2018 mit ihnen Gespräche geführt. Das Hauptanliegen der Linguistin lag dabei darin, Erkenntnisse über die Einstellung der Geretteten zu der deutschen und zum Erwerb der englischen Sprache zu gewinnen. Als eine Studie zur Sprache von Migrant(inn)en schließt die Untersuchung von Thüne Fragen nach Sprachwechsel, nach sprachlicher und kultureller Zugehörigkeit und nach der Identität mit ein. In methodologischer Hinsicht folgt ihre Untersuchung dem sprachbiografischen Ansatz und basiert auf Fragebögen und narrativen Interviews. Persönlichen Erinnerungen und emotionalen Aspekten des Spracherlebens und Spracherwerbs wird in den Interviews große Bedeutung zugeschrieben.
Die Publikation besteht aus einer ausführlichen Einleitung, in der die Wissenschaftlerin den historischen Hintergrund der Kindertransporte skizziert sowie ihr Erkenntnisinteresse und ihre Vorgehensweise schildert. Anschließend kommen auf ca. 250 Seiten die Geretteten selbst zu Wort. Wer sich je die Frage gestellt hat, wie es den geretteten Kindern nach der Ankunft in Großbritannien ergangen ist, findet in diesem Buch eine Antwort darauf.
Thüne nimmt die Lebensgeschichten der Geretteten ganzheitlich in den Blick und kann so anschaulich die Themenpalette vor den Leser(inne)n ausbreiten. Aufgeteilt in drei Kapiteln umfasst diese die Erinnerungen an die Familie und das Leben vor der Emigration, die ersten Erfahrungen und Eindrücke in Großbritannien bis hin zu den Kindertransporttreffen und dem Nachdenken über die Identität. Die Sprachen geraten dabei niemals aus dem Blick. Die Reflexionen über die Erfahrungen im Exil und die Einstellung zu der deutschen und der englischen Sprache in den verschiedenen Lebenssituationen und -phasen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Interviews durch. Den Leser(inne)n gewähren die im Buch angeführten Ausschnitte aus den Gesprächen einen tiefen Einblick in die private Sphäre der Geretteten. So haben manche von ihnen nach dem Krieg Deutsch wieder gelernt, um die von den Eltern hinterlassenen Briefe lesen zu können, manche haben sich bewusst dagegen entschieden Deutsch zu sprechen, um „nicht zu den vorherigen Feinden [zu] gehören“.
Das Buch handelt nicht nur von der Rettung der Kinder. Die Kindertransporte werden zwar als eine einmalige Rettungsaktion betrachtet, die aber schwerwiegende Konsequenzen nach sich gezogen hat. Die Interviews offenbaren Schicksale von Kindern, die im Moment ihrer Rettung ihre Familien, Heimat und Sprache verloren haben. Die zitierten Ausschnitte führen den Leser(inne)n eindrücklich das wahre Ausmaß der emotionalen und psychologischen Belastung und Unsicherheit der kleinen Emigrant(inn)en vor Augen und halten auch heute noch manche erhellende Erkenntnis bereit. Es ist die Erfahrung der Betroffenen und ihre in den Interviews festgehaltene Perspektive, die eine kritische Betrachtung der Transporte als eine lebensrettende Maßnahme zulassen.
Der Verlag weist das Buch auf der Rückseite des Covers als ein Lesebuch aus und in der Tat werden die Leser(innen) dazu angehalten, in die Welt der geretteten Kinder einzutauchen und selbst Antworten zu suchen. Thüne bietet den Leser(inne)n eine Orientierungshilfe in Form von repräsentativen Überschriften, die jeweils den in einem Interview geäußerten Hauptgedanken aufgreifen. Die in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse werden von der Autorin bereits in der Einleitung konzise dargelegt, sodass sie bei der Lektüre der Interviews den Blick nicht verstellen und eine persönliche Sinnkonstruktion ermöglichen. Bei der Lektüre darf nicht vergessen werden, dass die thematisch geordneten Ausschnitte aus den Interviews sprunghafte Narrative darstellen und als solche die Rekonstruktion von individuellen Lebensgeschichten schwer machen. Sie fokussieren Erfahrungen und Erlebnisse der Geretteten im Sinne einer Gemeinschaft von Menschen, die mit dem Kindertransport nach Großbritannien gekommen sind, die aber recht unterschiedliche Schicksale erlitten haben. Die Kinder haben vor der Emigration unterschiedliche Erfahrungen mit Fremdsprachen gemacht. Manche lernten Englisch oder Französisch, andere konnten ausschließlich ihre Erstsprache sprechen. Manche Kinder stammten aus jüdisch-orthodoxen, andere aus assimilierten Familien. In Großbritannien wurden sie in Kinderheimen oder Pflegefamilien untergebracht. Die religiöse Prägung passte nicht immer zusammen. Dazu kamen sprachliche Schwierigkeiten, kulturelle Missverständnisse und sogar Loyalitätskonflikte. Die zahlreichen kurzen Fragmente ergeben einen vielstimmigen Chor, der seine Wirkung erst im Zusammenspiel der einzelnen Stimmen entfaltet.
Wer sich für Schicksale der Kinder von den Kindertransporten nach Großbritannien interessiert, kommt nicht um das Buch von Thüne herum. Das Buch zeigt zudem, dass die Berichte der Überlebenden immer neues Forschungsinteresse entzünden können und unterstreicht somit die Notwendigkeit, die Schicksale der Überlebenden weiterhin zu erforschen.
Von Dr. Renata Behrendt (Leibniz Universität Hannover)
Eva-Maria Thüne: Gerettet. Berichte von Kindertransport und Auswanderung nach Großbritannien.
Berlin: Hentrich und Hentrich Verlag, 2019.
280 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978 3 95565 280 7